Andrea Fromm

Kunstwissenschaftlerin

Nikolai Estis - Visions

Vortrag zur Ausstellung in der Galerie Room 21, Hamburg 18. Januar 2002​

Guten Abend,

ich freue mich, Euch zur Ausstellungseröffnung “Visions” von Nikolai Estis begrüßen und diese Ausstellung gemeinsam mit Nikolai Estis eröffnen zu dürfen, der noch eine ganz besondere Überraschung für diesen Abend für uns parat hat. Aber dazu später mehr.

Nikolai Estis präsentiert in dieser Ausstellung Werke der letzten Jahre, aber auch ältere Werke, von denen sich viele in seinem Atelier in Moskau befinden, wo er übrigens im April 2002 auch eine Ausstellung haben wird. Also, wenn Sie im April nichts Besseres zu tun haben, wird sich Nikolai Estis sehr freuen, Sie auch zur Vernissage am 2. April 2002 in Moskau begrüßen zu dürfen. Viele seiner Werke befinden sich jedoch auch in seinem Atelier in Rellingen, wo er seit 1996 lebt und arbeitet. Hierzu später auch noch mehr.

Seit 1970 beschäftigen Nikolai Estis vorrangig vier Zyklen: Der Zyklus “Vögel”, der Zyklus “Engel”, der Zyklus “Türme” und der Zyklus freier, abstrakter Kompositionen. Dabei, so sehe ich es, ist der Zyklus “Vögel” sein Hauptthema, denn Vögel haben für Nikolai Estis besondere Bedeutung. Während seiner Schaffenszeit in Russland wurde er deshalb immer wieder gefragt, ob die Darstellung von toten Vögeln etwas über seine politische Einstellung aussagen würde. Denn Estis passte sich in seinem Malstil nicht der russischen Kunstdoktrin an und malte im Stil des Sozialistischen Realismus, sondern verarbeitete internationale Tendenzen und Strömungen der 50- und 60-er Jahre, des Informell und des Tachismus, die er mit einem eigenen Symbolismus verband.

Das Motiv “Vogel” hat für ihn keine politische Bedeutung, sondern eher eine persönliche. Wie er mir erzählte, begegnen ihm überall Vögel. Sogar in seiner Decke im Atelier hat sich eine Öffnung aufgetan, durch die es dann und wann Federn rieselt. Das Symbol des Vogels ist für ihn insofern mit einer Art Mystik besetzt, die es auch in der Geschichte der Kunst schon erfuhr. Da steht er einerseits als Symbol der Freiheit und des Friedens, aber auch für den Verlust der Unschuld. Andererseits steht der Rabe, der seinen festen Platz in der nordischen Mythologie hat, als Überbringer von Nachrichten aus aller Welt. Im Glauben vieler Menschen, besonders in den Märchen, wurde er als Unglücks- oder Seelenvogel gesehen, als Bote des Todes oder sogar als Teufel selbst. Deshalb fiel er im Mittelalter einer regelrechten Ausmerzung zum Opfer. Auf Schlachtfeldern oder am Galgen erscheint er oft als Angangstier, das heißt er steht für die Vorbedeutung oder den Ausgang der Situation.

Nikolai Estis malt nicht nur Raben, doch der Rabe nimmt einen großen Stellenwert ein – monumentale, tote oder verletzte Raben, die von einer großen Menschenmenge bestaunt und betrachtet werden. Hier sehe ich ihn als Symbol für eine Zeitenwende, für denn Sieg über Destruktivität und dunkle Triebkräfte im Menschen. Wir erkennen bei Nikolai Estis eine Verquickung einer persönlichen und archetypischen Symbolik, nicht zuletzt auch in seiner Auseinandersetzung mit biblischen Themen wie dem Turmbau zu Babel oder in den Kathedralentwürfen, die von der großen Zeit des Christentums erzählen und aus der Zeit entspringt als er sich mit alt-russischer Malerei beschäftigte. Auch die vielen Kompositionen seines “Engel”-Zyklus finden hier ihren Ausgangspunkt. Der Engel als Lichtgestalt und Personifikation des göttlichen Offenbarungswillens. So wie Gut und Böse, Engel und Rabe, Personifizierung von inneren menschlichen Energien sind, von hellen und dunkeln Treibkräfte, erzählen die Bilder von existentiellen Seinserfahrungen und inneren Visionen.

Um den Bildern noch einen Schritt näher zu kommen, wird Nikolai Estis heute Abend eine Bilderschau machen, das heißt, er wird Bilder präsentieren und diese mit Musik unterlegen. Wie Sie bin ich sehr gespannt. Dies war der eine Punkt, den ich anfangs erwähnte. Der andere Punkt ist der, dass Nikolai Estis Einladungen für einen “Tag der offenen Tür im Atelier” ausgelegt hat, wo der heutige Abend sicher noch weiter vertieft werden kann.

Nikolai Estis, Vogel Nr. 1, 1980, Tempera auf Papier, 40 x 56 cm

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