Prof. Dr. Hartmut Freytag

(Universität Hamburg)

Im Dialog.
Arbeiten der Künstlerfamilie Lydia Schulgina - Nikolai Estis - Alexander Estis. Malerei - Plastik - Grafik

Ausschnitt aus dem Vortrag zur Ausstellung in der Drostei, Pinneberg 23. Januar 2011​

Nikolai ist im Wesen seiner Kunst Lydia verbunden, oder sollte ich es besser umkehren und sagen: Lydia ist in ihrer Kunst Nikolai verbunden? Auch seine gemalten Gestalten sind schemenhaft, erscheinen wie ein Ausschnitt aus einer nicht begrenzten, sich verändernden, verwandelnden Struktur. Ich denke an Nikolais wundervolles Album “Chaos und Kosmos”. Es liegt ebenso wie das großartige Album von Lydia am Empfangstresen zur Ansicht aus.

Das Chaos, das zur Form findet, um sofort wieder zu zerfallen und sich von Neuem zu bilden – wie ein dicht gepackter, flirrender Organismus. Die Malerei zeigt Verwandlung, irrlichternde schemenhafte krisselige Form, etwas ewig Prozesshaftes.

Auf dem Plakat zu dieser Ausstellung sehen Sie rechts neben der Skulptur aus der Hand Lydias, Nikolais Bildausschnitt in Form und Farbe, fühlen gleichsam die innere Nervosität, das Zerbrechliche, zugleich aber auch das Kraftvolle, das schemenhafte Aufleuchten von Figuren – und bemerken nach längerem Betrachten und bei genauem Hinsehen, wie sich Gestalten aus dem Chaos, aus der informellen Malerei heraus lösen. Dabei sind sie aber durchaus in die kleinteilige Textur des Bildes eingewoben, die, teppichartig gestaltet, die unendliche Fülle des Universums abbildet. Man weiß nicht, wie lange die Figuren in dieser Form erhalten bleiben, sie scheinen sich wie zufällig herauszubilden und wieder zu vergehen, dem Gesetz des Stirb und Werde auf ewig ausgesetzt. Es ist, wie wenn es keinen Anfang und kein Ende gibt.

Ähnliches gilt für das Gemälde “Babylon” – ein wichtiges Motiv bei Nikolai, der wie Lydia auf das alte Thema, das seine Gültigkeit bis heute bewahrt hat, zurückgreift. Es gemahnt an Bau und Zerstörung des Turms zu Babel, der sündhaften Stadt, die ihren symbolträchtigen Namen von dem alten hebräischen Wort mit der Bedeutung “Verwirrung, Durcheinander” herleitet. Hieran erinnert die unendliche Menge an Menschen in Nikolais gleichnamigem Gemälde. Der Turm von Babel verdichtet sich in der Fülle des Universums, er zeigt, wie sich ein unheimlich gewaltiger Turm zusammenballt – eine düstere, aber vorübergehende Form, die auch wieder zerfallen und immer von Neuem entstehen kann – die Versinnbildlichung eines modernen Babel.

Kein Abbild von Gestalten, eher wesenhaft herausleuchtend ist das häufige Motiv des Vogels, Symbol der flüchtigen und verletzbaren menschlichen Existenz. Der bald zarte und bald unheimliche, aus dem Gewirr und dem Strudel der Striche auftauchende und sich wieder verflüchtigende Vogel, der sich jederzeit von neuem verflüchtigen könnte. Der geknebelte, verletzte Geist. Daneben aber auch der bedrohliche Schicksalsvogel, wie wir ihn aus der Mythologie kennen.

Ein Wesen aus einer anderen Welt, das sich in eben diese Textur des Bildgrundes einfügt, ist der Engel, mit dem sich Nikolai auch oft künstlerisch auseinandersetzt. Ein Gemälde zeigt einen gewaltigen Engel, der sich erst allmählich entpuppt, den Engel als kraftvolles geflügeltes Geistwesen, meist ohne individuelles Gesicht, den Boten einer anderen Welt, in oft gewaltigen Erscheinungen, die beim Menschen Ehrfurcht und Schrecken auslösen und an den Verkündigungsengel Gabriel erinnern, der Maria und die Hirten bei seinem Erscheinen auffordert, sich nicht zu fürchten – ein Thema, das die Künstlerfamilie nicht loslässt und sie miteinander verbindet.

Nikolai Estis, Türme Nr. 3, 1999, Tempera auf Papier, 28 x 36 cm

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