Alexander Estis

Vorrede Bilderschau

Verehrte Damen und Herren,
liebe Freunde,

vielen Dank dafür, dass Sie heute hierher gekommen sind – zu dieser merkwürdigen und ungewöhnlichen Veranstaltung, einer “Bilderschau”.

Diejenigen von Ihnen, die noch nie eine solche Bilderschau erlebt haben, werden sich fragen, was das eigentlich ist und was zur Entstehung solch einer seltsamen Kunstform geführt hat. Nun, man könnte diese Fragen getrost offen lassen und ohne Vorwort mit der “Bilderschau” beginnen, wie wir es tatsächlich auch oft tun, denn Kunst wirkt auch ohne Vorwissen, die Aufnahme von Kunstwerken kann spontan und unvermittelt geschehen, erfordert keine wissenschaftliche Propädeutik.

Und gerade dann, wenn ein künstlerisches Werk uns unvermittelt ergreift, uns ohne jede Vorbereitung in seinen Bann zieht, entstehen die stärksten Empfindungen, das tiefste Verständnis. Dazu bedarf es nur der inneren Bereitschaft, einer gewissen Empfänglichkeit und Sensibilität, einer Konzentration auf den Gegenstand. Dies bringen Sie sicherlich mit – schließlich sind Sie ja hierher gekommen. Daher werde ich nicht lang und nicht ausführlich reden und schon gar nicht versuchen, die Werke zu erklären. Was Sie allerdings sicher interessieren wird, ist der historische Hintergrund, die Entstehung dieser “Bilderschau” – und darüber will ich kurz berichten.

Die Bilderschau ist vor beinah einem halben Jahrhundert im Atelier des Künstlers Nikolai Estis, meines Vaters, entstanden und zwar zur Sowjetzeit – einer Zeit der rigorosen Zensur. Damals musste jeder Künstler, der in seinem Schaffen nicht konformistisch, nicht systemtreu war, nicht bloß um sein Atelier oder seine Werke, sondern um sein Leben bangen. Nicht systemkonform sein, hieß, in seinem Schaffen nicht den Richtlinien des sogenannten Sozialistischen Realismus zu folgen, wie der Darstellung von Lenin auf dem Panzer, dem Bauern bei der Ernte, dem Soldat, der die Grenze verteidigt – alles plakativ, in Rot. Avantgardistische Künstler mussten sich versteckt halten.

Mein Vater gehörte zwar keiner avantgardistischen Bewegung an, doch er malte in seinem eigenen Stil, so wie es sein Sinn es ihm eingab, und war somit alles andere als systemkonform. Ausstellen konnte er daher kaum, nur unter einem “Vorwand”, etwa eine Serie von Lithographien mit Illustrationen zu Lorca. Lorca verband man mit Revolutionsgeist, und alles was damit zu tun hatte, war willkommen.

Das Interesse an origineller Kunst war aber natürlich trotz Zensur groß – oder vielleicht gerade durch sie verstärkt. Daher kam man heimlich, ängstlich, oft einzeln und durch Hintertüren, in die Künstlerateliers und sah sich die Bilder dort an. Nun hatte mein Vater ein Atelier direkt unter dem Dach, und die schrägen Wände des Dachgeschosses erlaubten es nicht einmal, die Malereien an die Wände zu hängen. Also musste eine Notlösung gefunden werden. Mein Vater stellte für die heimlichen Besucher seine Bilder nacheinander auf eine Staffelei. Die Zuschauer standen umher oder saßen und betrachteten die Bilder einzeln. Schon bald stellte mein Vater fest, dass die Reihenfolge, in der die Bilder gezeigt wurden, nicht ohne Bedeutung war. Und er begann, bestimmte Folgen aufzustellen, Sequenzen von Bildern, die einen bestimmten emotionalen Zusammenhalt hatten. Aber darüber später.

Zunächst kam noch ein weiteres Element hinzu. Ein Freund meines Vaters, ein Cellist im Orchester, hatte eine Reise ins Ausland beantragt. Daraufhin hat man ihn verdächtigt, hat ihn seiner Arbeit beraubt und ihn aus dem Orchester geworfen. Er lebte mit seiner Frau und zwei Kindern in einer Kommunalwohnung, das heißt in einem Zimmer. Zuhause konnte er also nicht spielen. Daher kam er zu meinem Vater ins Atelier und probte dort. Eines Tages saß er neben der Staffelei, auf der ein Gemälde stand, und vertiefte sich beim Improvisieren so sehr in die Betrachtung des Kunstwerks, dass er gleichsam von dem Bild wie von einem Notenblatt zu spielen schien. So kam die musikalische Komponente zu der optischen Bildreihe hinzu.

Später führte mein Vater solche Bilderschauen mit verschiedenen Musikern auf, unter anderem mit Alexander Suslin, der am 4. März hier spielen wird, meist mit improvisierter Musik, zuweilen aber auch mit bestimmten, sehr unterschiedlichen Werken – von Bach bis hin zu Carl Orff.

Es ist aber offensichtlich, dass die Improvisation am besten zu dieser Kunstform passt. Denn die Musik ist hierbei kein eigenständiges Medium, nicht etwas vom Bild unabhängiges. Es ist aber auch nicht so, dass die Musik jedes einzelne Gemälde illustriert oder musikalisch umsetzt. Vielmehr folgt die Musik demselben inneren Rhythmus, derselben Bewegung wie die Bildreihe.

Der Begriff der Bewegung ist auch für die Anordnung der Bilder zentral. Die Bilder sind nicht etwa nach motivischen Gesichtspunkten geordnet – auch wenn das im Einzelnen der Fall sein kann –, sie erzählen auch keine Geschichte im herkömmlichen Sinne – eher eine Geschichte, deren handelnde Personen Farben und Lineaturen sind. Die Bildfolge ist nach Kolorit, nach Dynamik, eben nach einer bestimmten Bewegung gebaut. Ein Rhythmus durchzieht die Sequenzen, aber kein gleichmäßiger, sondern ein sich steigernder, ein Crescendo, eine Emporführung, in die der Betrachter einbezogen, geradezu eingesogen wird.

Der Effekt ist groß. Eine mit meinem Vater befreundete Psychologin benutzte die Bildfolgen, um Patienten zu behandeln. Ein Patient, der lange nicht gesprochen hatte, schob der Psychologin nach der Betrachtung der Bilderschau eine Schale mit Süßigkeiten zu, die auf dem Tisch stand, und fragte sie, ob sie welche davon essen wolle.

Oft bitten Zuschauer, die Bilder am Ende der Bilderschau in umgekehrter Reihenfolge im Schnelldurchlauf zu zeigen – um die Betrachter gleichsam “zurückzuholen”. Nun möchten wir aber Sie “hineinholen”.

bilderschau_010

Nikolai Estis bei einer Bilderschau

© 2021 Studio Nikolai Estis
Impressum & Datenschutz