Dr. Alberto Saviello
(Kunsthistorisches Institut der Freien Universität Berlin)
Nikolai Estis - Welt der Engel
Vortrag zur Ausstellung in der Europäischen Janusz-Korczak-Akademie, München 18. Februar 2016
Schemenhaft und doch erhaben erscheinen Nikolai Estis‘ Engelfiguren in mit expressivem Duktus gestalteten, von Farbspritzern und Farbverläufen geprägten Bildlandschaften. Die anthropomorphen und geflügelten Gestalten von meist monochrom weißer, roter, blauer oder auch schwarzer Farbigkeit erscheinen an Bildorten, die an natürliche Landschaften, an Städte und Menschenmengen oder auch an sakrale Architekturen erinnern. Den goldenen Bildhintergrund traditioneller orthodoxer Engelikonen hat Estis gegen Szenerien eingetauscht, in denen die Engel in Kontakt mit dem Irdischen und mit den Menschen treten. Ebenso wie die Landschaften und Architekturen zwischen konkreter Form und freiem malerischen Duktus changieren, so erscheinen uns auch die Engelfiguren als teils transparente Gestalten, deren dynamischen und offenen Konturen ein somatisches Schweben erzeugen; Formen, die zwischen Präsenz und Entzug, zwischen Verhüllung und Offenbarung schwanken.
Dabei ist es Estis ausdrucksstarker Farbauftrag selbst, der als eine den Bilder immanente Energie die Darstellung der irdischen Welt und ihrer geistigen Wesen aus der Farbe in die Form schöpft. Seine Figuren sind lebendige, sich wandelnde, ja fließende Farbkörper, beseelt von der physischen und physischen Kraft seines malerischen Duktus. Mit dieser Evokation der Engel als energetische Wesen und als „Erscheinende“ greift Nikolai Estis eine zentrale Problematik in der theologischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit Engeln auf – nämlich die Frage nach der Materialität und der Sichtbarkeit der himmlischen Boten.
Der Maler verzichtet auf jedwede Symbolik, welche die in seinen Bildern erscheinenden Engel als einer bestimmten Religion oder Konfession zugehörig ausweisen würden. Vielmehr als die unterschiedlichen Himmelsherrscher, auf welche die Engel verweisen könnten, interessiert sich Estis für das Verhältnis zwischen den Engeln und den Menschen. Schauplatz seiner Bilder ist also das Irdische, wobei die Darstellungen der diesseitigen Welt und der in ihr tätigen Engel gar nicht als Kontrast erscheinen. Denn die Landschaften und Architekturen der Bildräume sind von derselben grundlegenden Kraft durchwirkt, die sich auch in den sie bevölkernden Wesen zeigt, eine Energie die sich in den Gestalten der Menschen und Engel lediglich verdichtet und zu figurativer Ausformung gelangt. Das Transzendente scheint hier einerseits dem Immanenten eingeschrieben bzw. aus ihm hervorzugehen, andererseits erhalten gerade die Formen, denen man einen transzendenten Gehalt zusprechen würde, in Estis Bildern eine besondere Sichtbarkeit und Evidenz. Nicht das Materielle ist hier die Grundlage der Sichtbarkeit, sondern erst die geistige Durchdringung ist es, die das materielle Chaos in Form bringt und damit dem Verstande und dem Auge zugänglich macht.
Stellt man diese Sichtweise nun in die Tradition der Engelbilder, so scheint es sich geradezu um eine Verkehrung der klassischen Perspektive zu handeln. Während die historischen Engelbilder meist danach trachteten, eine transzendente Begebenheit für die irdischen Augen sichtbar zu machen – am deutlichsten vielleicht bei Caravaggio, der mit seinen lasziven Gassenjungenengeln dieses Spiel auf die Spitze trieb –, habe ich bei Nikolai Estis‘ Bildern den Eindruck, dass es darum geht, das Irdische aus der Sichtweise der Engel darzustellen. In einer solchen Blickrichtung wird eben nicht das Irdische und Menschliche an den Engeln hervorgekehrt. Stattdessen stellt ein Blick, der auf die geistigen Energien im Irdischen gerichtet ist, eine grundlegende Ähnlichkeit und Verbundenheit von Immanenz und Transzendenz heraus und betont damit das Himmlische im Irdischen und die engelhaften Eigenschaften im Menschen.
Nikolai Estis, Engel Nr. 1, 1983, Tempera auf Papier, 45 x 62 cm
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