Nikolai Estis
Gibt es den "jüdischen Künstler"?
1991
Als ich in den 60-er Jahren begann, graphisch zu arbeiten, habe ich figurative, darstellende Blätter gemacht und zeichnete auch zu jüdischen Themen. Die Welt dieser Arbeiten ist recht beklemmend. Den Hauptinhalt meiner inneren Leidenschaften bildeten offenbar meine Kindheitserlebnisse, welche durchweg verbunden waren mit meiner jüdischen Herkunft und mit dem Leben im ukrainischen Schtetl der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Hier drehten sich alle Gedanken um Krieg, Pogrom und Vernichtung. Obwohl ich selbst weder Krieg noch Pogrome jemals unmittelbar erlebt habe, spüre ich auf mir doch die Prägung der nationalen Erniedrigung. Fortwährend die eigene Nationalität schmerzlich empfinden zu müssen – auch das ist schon ein Pogrom.
Die Schwarz-Weiß-Graphik ermöglichte mir, innere Dramatik und Leid zu vermitteln. Tusche und Papier sind geschmeidige, demokratische Materialien, und der Weg vom Erlebnis zur Darstellung ist hier kurz: Dein Gefühlszustand kann sich auf der Fläche sofort verwirklichen.
An einem bestimmten Punkt fragte ich mich: Was ist eigentlich Schmerz? Was ist Leid? Wenn ich Leid vermittels einer menschlichen Gestalt zum Ausdruck bringe, warum verleihe ich diesem Leid jüdische Gesichtszüge? Hat dieses Leid bei einem Spanier, einem Chinesen etwa keine Nationalität? Es muss also mein Ziel sein, die Kunst von den konkreten Merkmalen des jeweiligen Ortes, der Zeit, der Nationalität wie der Psychologie der Figuren zu läutern, damit der Zustand des Leidens allein über die Plastik wiedergegeben werde. Ich erkannte, dass eine graphische oder malerische Komposition gerade dann viel mehr Gram in sich zu fassen vermag, wenn sie von jeglicher Bindung an das Konkrete befreit ist. Als ich an einer Serie von Lithographien arbeitete, die sich Motiven aus Gedichten von Federico García Lorca widmet, versuchte ich über das Leid der Menschen zu sprechen, ohne das Thema durch irgendwelche nationalen Grenzen zu verengen. Diese Serie war meine letzte Arbeit im Bereich der Schwarz-Weiß-Graphik. Ich fühlte, dass zwei Farben mir nicht ausreichten. Mehrfarbige Arbeiten entstanden, und seit 1974 arbeite ich nur noch mit Farben.
Die Malerei begann sich in mir zu entwickeln aus innerer Unruhe. Sie wurde für mich zu einer anderen Methode, auf der Fläche zu reflektieren – nicht mehr so geradlinig und lakonisch. Das malerische Element entspricht in höherem Maße meinem Temperament, drückt meinen inneren Zustand treffender aus. Gleichzeitig versuchte ich, das Konkrete in meinen Arbeiten loszuwerden. Ich fürchtete mich vor dem übermäßig Illustrativen nicht deshalb, weil es an sich schlecht wäre, sondern weil unsere Sprache, die Sprache der Plastik und der Farben, keine Hilfe von irgendwelchen benachbarten Genres voraussetzt. Ob es dir gelingt, einen seelischen Zustand zu vermitteln, hängt davon ab, wie du mit der Farbe, mit der Fläche arbeitest – davon, was du erreichen kannst, indem du allein die malerische Sprache bemühst, ohne zu literaturähnlichen oder anderen Mitteln zu greifen.
Als Künstler bevorzuge ich es, über das Leid, über die Liebe, über das innere Leben eines jeden von uns zu sprechen, ohne mich auf die professionelle, nationale oder sonstige Erfahrung des Betrachters zu stützen. Die Erfahrung ist zweitrangig, das Seelenleben manifestiert sich nicht in materieller Gestalthaftigkeit und benötigt keine Illustration. Ich bin dafür, dass Zustände des Leids, der Freude, der Liebe allein mit innerkünstlerischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden – das bereichert sowohl den Künstler als auch den Betrachter. Über die Malerei erlangt der Mensch etwas, das er sonst nicht erlangen könnte. Jeder von uns ist zur Aufnahme von Malerei fähig, darin sind wir alle gleich, aber bei vielen Menschen bleibt diese Fähigkeit unausgeprägt. Von Kind auf wird dem Menschen beigebracht, Malerei als Illustration zu diesem oder jenem historischen oder literarischen Motiv zu verstehen. Als Ergebnis entwickelt sich die Seele nicht, sondern sie verarmt. Doch nur im Zustand der Verliebtheit, des Leidens, sobald man über die Alltäglichkeit hinausgelangt, hört der Mensch auf, in der gegenständlichen Welt zu leben, und wird empfänglich für Kunst, Schmerz, Tragödie. Dann erschließen sich im Innern des Menschen geradezu grenzenlose Möglichkeiten.
Das Leiden ist ein besonderer Zustand der Seele, welches sie Gott gegenüber öffnet. Im Leiden und Mitleiden beginnt der Mensch, sich als Teil des Alls zu fühlen, er fühlt den Schmerz alles Lebendigen. Deshalb muss sich die Seele des Künstlers in ständiger Bereitschaft befinden, muss fein sein, fähig, schon eine minimale Schwingung der Außenwelt zu erspüren und zu erwidern. Und diese Kunstseele bedarf eines folgsamen und von Beschränkungen freien Instruments für den Ausdruck seiner selbst. Das heißt: Die Hand muss völlig frei sein, nicht eingeengt von irgendwelchen Aufgaben, Ideen oder literarischen Vorstellungen. Allein die freie Handbewegung vermag die Freiheit seelischer Regungen darzustellen, jener Ströme, die der Künstler wahrnimmt. In alten Zeiten gingen die Ikonenmaler stets nur nach Gebet und mit „ehrfürchtiger Hand“ an ihre Arbeit. Ich stelle mir das wörtlich vor: Im Gebet gelangt die Seele in den Zustand der Ehrfurcht, und die Hand muss selbstverständlich genauso feinfühlig sein. In der Bewegung einer freien Hand ist viel mehr vom Menschen selbst, von der Individualität des Künstlers, als in der Bewegung einer kontrollierten Hand.
Nach einem Ausdruck des Dichters Ossip Mandelstam ist der Mensch einzigartig in dem „Muster seiner Seele“ und jenes, was von seinem Verstand kommt, von seinem inneren Redakteur oder Zensor, ist frei von Originalität. Die Summe all dessen, was man mittels des Verstandes erfassen kann, scheint mir sehr gering. Erkenntnis, wie sie über das Gebet entsteht, über die Empfindung, Teil alles Lebendigen zu sein, und zwar ein unendlich kleiner Teil – solche Erkenntnis gibt uns weitaus mehr als die Einsicht desjenigen, der schöpft, gestaltet oder, Gott behüte, umwandelt. Die Seele kann nicht verschlossen bleiben. Sie muss gegenüber demjenigen offen sein, das höher und größer ist als sie. Nur dann wird die Aufnahme von Kunst möglich, nur dann beginnen die Menschen, einander zu verstehen, zu lieben, mit Gott zu sprechen und sich in der Welt der Kunst wohlzufühlen – als Betrachter wie als Schöpfer.
Nicht nach Didaxe, nicht nach Geschichte und nicht nach sozialen Lehrsätzen sucht der Mensch in der Kunst. Der Künstler lebt, strebt danach, sich selbst zu erkennen und hinterlässt Spuren dieses Erkenntnisstrebens in seinen Arbeiten. Und den anderen Menschen wird seine seelische Arbeit dargeboten. Sie ist es, wonach die Menschen in der Kunst verlangen. Die Kunst haust in solchen Höhen, wo all ihre je besonderen Charakterzüge – ob religiöse, nationale oder andere – unwesentlich werden, nichts mehr bestimmen. „Hohe Kunst“ (und allein eine solche kann Kunst sein) – „hoch“ steht hier nicht im Sinne professioneller Meisterschaft, vielmehr in geistigem, religiösem Sinn.
Kunst muss für sich existieren, wie sie für sich entstehen muss. Sie kann nicht irgend etwas abbilden, gegen irgend etwas ankämpfen, etwas verursachen wollen. Die Kunst ist außernational. Jede Einteilung des Kunstkörpers nach nationalen oder sonstigen Merkmalen erfolgt später. Das ist Sache von Kunstwissenschaftlern und Kritikern. Wenn der Künstler sich einer bestimmten Gruppe, einer nationalen Gemeinschaft zugehörig wissen will, dann soll er dies tun; wenn er es nicht will, soll er es nicht – Hauptsache ist, dass er die Freiheit besitzen muss, es nicht zu tun. Wenn er sich als ein Weltbürger zu fühlen geneigt ist, dann mag er ein Weltbürger sein oder er soll sich, wenn er es möchte, als der Bürger eines bestimmten Landes verstehen. Es wäre für mich vollkommen unannehmbar, wenn einem Menschen, einem Künstler – oder auch seinem Werk – ein für allemal eine eindeutige Bestimmung gegeben werden sollte, erst recht, wenn diese Bestimmung dem eigentlichen Menschen vorgeordnet wäre.
Es gibt relative und absolute Werte. Mir scheint, dass der Künstler verpflichtet ist, in einer Welt absoluter Werte zu leben. Und auch jeder andere Mensch muss dies anstreben. Ich sehe den Künstler auf der Erde als ein Phänomen, das von Gott herrührt. Schließlich sagt man das auch so: Ein Künstler von Gottes Gnaden. Das bedeutet, dass die Seele des Künstlers mit einer besonderen Qualität ausgestattet ist. Dies ist eine Gabe, die zwar ihm verliehen wird, doch den anderen Menschen gehört: Und er kann nicht, ja, darf nicht mit dieser Gabe schalten und walten, wie es ihm gefällt – sie für Geld eintauschen, für Konjunktur, Popularität. Er muss alle Mühe daran setzen, diese Gabe zu vermehren und an die Menschen weiterzugeben. Nicht zu belehren, sondern zu zeigen, dass es ein Licht gibt, das ist seine Berufung. So sehe ich den Künstler.
Nikolai Estis, Gespräch, 1971, Bleistift auf Papier
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